17.Juli 1975
„Wo der Tod einkehrt, kehrt das Schweigen ein. Der Mund dessen, den wir heute zu Grabe tragen, schweigt für immer. Wir selbst, die durch seinen Tod betroffen sind, wollen der Stille nicht ausweichen. Vielleicht möchten wir uns lieber klagend auflehnen, vielleicht warten wir auf Menschen, die uns mit ihren Worten trösten. In Wirklichkeit vermag weder unsere laute Klage noch das tröstliche Menschenwort dem Tod die Unerbittlichkeit zu nehmen.“ Der Pfarrer hielt kurz inne, schaute in die Runde, gerade so, als wolle er kontrollieren, ob seinen Worten überhaupt gelauscht wurde.
„Unser Herr Christus hat, wenn er zu den Trauernden kam, alle hinausgetrieben, die da lärmten und klagten. Nur in der Stille wird sein Wort recht vernommen. Auch in dieser Stunde hat er allein das Wort. Im Gedenken an den Heimagesegangenen dürfen wir wissen: Wer gelernt hat, auf dieser Erde das Wort Gottes zu hören und ihm darauf zu antworten, der ist auch im Sterben nicht ohne ihn und sein Wort: '„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich
glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe, und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.' Unter diesem Wort wollen wir über den Tod unseres Bruders still werden und ihn der Gnade des lebendigen Herrn befehlen.“
Wieder unterbrach er seine Rede, schaute, so hatten die Anwesenden den Eindruck, nicht nur in ihre Gesichter, sondern versuchte in ihre Herzen zu schauen.
Er war ein genialer Pfarrer, der es verstand mit seiner Gemeinde umzugehen. Oftmals schaute er einen nur an, und schon hatte er dessen Problem erfasst. Er wurde von allen hier nicht nur gefürchtet, sondern auch verehrt.
„Uns allen“ fuhr er fort, mit erhobener Stimme, „aber gilt die Frage, die Jesus für die Überlebenden hinzugefügt hat: Glaubst du das?“ Dieser Aufruf zum Glauben verlangt heute und alle Tage unsere Antwort, damit wir uns wappnen für die Stunde, da es ganz einsam um uns wird, da wir alles zurücklassen müssen und nur noch der lebendige Herr in seinem Wort bei uns bleibt. Auch in der schweren Stunde der Trauer und des
Abschieds ist er uns ganz nahe und spricht mitten in das Todesschweigen hinein: 'Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.' Höret dieses sein Wort, ergreift seine Hand, damit sie euch dahin führe, wo er ist, ins Haus des Vaters, wo alle Unruhe dieser Welt und alles Schweigen des Todes einmündet in den ewigen Lobpreis des Dreieinigen Gottes. Amen.“
Als der Pfarrer die Worte beendet hatte, trat aus der ersten Reihe der trauernden Gäste eine in Schwarz gehüllte Frau, nahm die Schaufel, die auf dem Erdhügel neben dem Grab steckte, stach in die Erde und drehte sich dann zum Grabe hin.
Shella Color stand am Grabe ihres Vaters, mit der Schaufel in der Hand, die sie zuvor mit Erde gefüllt hatte. Still und gebannt, geradeso, als hoffte sie noch immer, ihr Vater würde den Sarg öffnen und wieder zu ihr zurück kommen. Doch dies war nur ein Traum. Und das wusste sie auch. Es war unmöglich, dass ihr Vater dem Grabe wieder entsteigen würde. Und doch, sie hielt inne, wollte nicht glauben, ihn hier und Heute zu beerdigen.
Tiefer Schmerz bohrte sich in Shellas Seele. Durfte
dies alles wahr sein?
Vor ein paar Tagen erst noch hatten sie sich darüber unterhalten, was sie noch alles unternehmen wollten. Er wollte nach Paris gehen, Amsterdam und viele andere Städte. Er hatte schließlich jetzt Zeit dafür. Denn er war erst seit Kurzem in Rente und diese Zeit wollte er damit nutzen Dinge zu tun, für die er all die Jahre keine Zeit gefunden hatte.
Shella erschrak, als sie eine Hand an der Schulter berührte. Ein kurzer Blick nach hinten zeigte ihr, es war ihr Lieblingsonkel.
„Shella“, sanft sprach er mit ihr. Er war im immer der ruhige, besonnene der beiden Brüder und verstand auch immer, zum rechten Zeitpunkt die rechten Worte zu finden. Darum war er wahrscheinlich bei allen so beliebt. Unter anderem auch bei Shella.
„Soll ich dir helfen?“ Leise sprach er weiter.
Doch Shella schüttelte den Kopf. Diesen letzten Weg wollte sie für ihren Vater alleine gehen. Auch
wenn es noch so schwer fallen würde.
Sie warf noch einmal einen Blick in das Grab, warf das bisschen Erde, das sich auf der Schaufel befand auf den Sarg, wo es mit einem lauten donnernden Getöse aufschlug, murmelte ein paar Worte und wandte sich dann vom Grabe ab, gestützt von ihrem Onkel.
Erst jetzt bemerkte sie die weichen Knie und war froh darüber, von ihrem Onkel unter dem Arm gepackt zu sein. All zu leicht wäre sie jetzt umgekippt. Doch diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Nicht vor all den Leuten hier. Auch wenn sie nur wenige von diesen Menschen kannte.
Sie folgte ihrem Onkel zum Wagen, setzte sich auf den Beifahrersitz und zeigte keinerlei Regung in ihrem Gesicht. Sie wirkte abwesend, und verschlossen.
Drei Wochen waren seit der Beerdigung ihres Vaters vergangen, als ihr Onkel unvermutet wieder bei ihr auftauchte. Shella wirkte noch immer etwas abwesend „Geht es dir gut?“ fragte er, als Shella die Tür geöffnet hatte.
„Es geht so. Aber komm doch herein.“ Antwortete sie mit leiser Stimme.
Sie hatte sich vom Tode ihres Vaters immer noch nicht ganz erholt. Dass sie sich dies so sehr zu Herzen nehmen würde, hatte ihr Onkel nicht erwartet.
Rick Color, eigentlich heißt er Richard, doch es hatte sich bei allen so eingebürgert, ihn nur Rick zu nennen, der Bruder des Toten beschloss deshalb eine Zeitlang bei Shella zu wohnen. Fragt er sie nicht? Er hatte bedenken, Shella würde sich womöglich etwas antun, auch wenn er dies im Grunde verneinte. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Ein paar Tage später, es war beim Frühstück, stellte Shella ihrem Onkel eine Frage: „Hilfst du mir, die ganzen Sachen von Vater auszusortieren und zu versorgen?“
Rick war erstaunt. Nach so kurzer Zeit wollte sie hier im Hause alles entsorgen, was von ihrem Vater war? „Bist du dir sicher, jetzt schon auszuräumen?“
Shella nickte nur. Keine Antwort und keinen Kommentar. Nur ein einfaches Nicken.
„Wo soll ich anfangen?“ Rick wollte nicht weiter hinterfragen, warum sie sich dazu entschlossen hatte und tat deshalb so, als sei es normal.
„Würdest du bitte die Sachen auf dem Dachboden durchsehen und dann in den Container werfen, der Morgen gebracht wird?“
Rick nickte nur als Zustimmung. Warum sollte er nicht den alten Plunder, den er auf dem Dachboden vermutete entsorgen. Gescheites konnte dort eh nicht sein.
Er zog sich am nächsten Tage Arbeitskleidung an und machte sich nach dem Frühstück auf, den Dachboden zu entrümpeln. „Ich gehe jetzt nach oben, oder soll ich dir hier unten erst etwas helfen?“ sprach er zu Shella nachdem er von seinem Stuhl aufgestanden war.
„Nein, nein. Fang du nur oben an. Ich komme hier unten schon alleine klar. Und zum anderen muss ich hier alles selber aussortieren, denn du weißt ja nicht, was ich aufheben möchte.“
„Ok.“ Kam es nur kurz über seine Lippen und er stapfte Richtung Dachboden davon.
Oben an der Tür angekommen, drückte er die Klinke herunter und versuchte die Tür aufzudrücken. Doch es gelang ihm nicht. Er drehte den Schlüssel, der im Schloss steckte, doch die Tür war nicht durch das Schloss verschlossen. Wieder drückte er die Klinke herunter und stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Mit einem lauten Krach öffnete sie sich, wobei er fast das Gleichgewicht verlor und in den Raum stolperte.
Trotz der vielen Fenster in diesem Raum, der keinerlei Zwischenwände hatte, war der Raum düster. Beim näheren hinsehen stellte Rick fest, die Fenster waren in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal geputzt worden, soviel Staub hatte sich dort angesammelt. In der Nähe eines der Fenster sah er auf dem Boden ein altes Laken liegen, dies nahm er an sich und versuchte mit diesem erst einmal die Fenster etwas zu reinigen, um helles freundliches Licht in den Raum zu lassen. Die Lichtquelle in diesem Raum brachte eh nicht viel. Es war nur eine einzige Lampe mitten im Raum montiert, und die hatte noch eine schwache
Birne darin.
Nachdem er die Fenster gereinigt hatte, wurde es ein wenig heller hier oben. Doch ohne Taschenlampe, konnte er doch nicht allzu viel hier ausrichten.
Er ging wieder in die unteren Räume, um nach einer Taschenlampe zu suchen, als er in diesem Moment am Schlafzimmer seines Bruders vorbeikam und ein Schluchzen aus diesem Raum hörte. Behutsam öffnete er die Tür und sah Shella, wie sie auf dem Bett saß, einen Gegenstand in der Hand haltend und leise weinte.
Langsam ging Rick auf sie zu, kniete sich vor sie nieder, wobei er seine Hände auf die Knie von Shella legte. Sie sah nicht einmal auf, sondern blickte immerzu auf den Gegenstand und ließ ihren Tränen freien lauf.
Rick sagte kein Wort, er betrachtete sie nur. Er wusste nicht so recht wie er sich verhalten sollte.
Im Normalfall war er immer jeder Situation gewachsen, aber hier verließen ihn all sein Wissen
und Können. Er nahm ihr den Gegenstand aus der Hand, sie ließ es bereitwillig geschehen. Und als er ihn in der Hand hielt betrachtete er ihn genauer.
„Und darum weinst du?“
In der Hand hielt er ein Bild auf dem eine Puppe abgebildet war.
„Diese Puppe“, brachte sie unter Tränen hervor, „hat mir mein Vater vor vielen Jahren einmal geschenkt. Und durch den Umzug hierher, ist sie verloren gegangen. Ich habe unheimlich an ihr gehangen und mein Vater hatte alle Mühe mich wieder zu trösten.“ Sie unterbrach ihren Redefluss, um sich die Nase zu putzen.
Kräftig schnäuzend putzte sie sich ihre Nase, wobei dies eher an den Ruf eines Elefanten erinnerte, als an eine Frau, die sich die Nase säubert.
Unwillkürlich musste sich Rick ein lachen unterdrücken.
„Na, ja, er brauchte viele Tage dazu, mich zu trösten. Er schaffte es auch tatsächlich. Ich habe
beim Anblick dieses Bildes an diese Zeit denken müssen, er war so liebevoll und zärtlich zu mir. Nie mehr habe ich ihn so erlebt.“
Rick nickte mit dem Kopf. Ja er verstand sie und konnte ihre Gefühle nachvollziehen.
„Geht’s wieder?“ Zärtlich fuhr er ihr über die Haare.
Vielen Dank für das Lesen dieser Probe, sie sind am Ende der Leseprobe angelangt.
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