„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Roswitha Cherchenko klappte das Buch zusammen und warf einen Blick auf Stephanie, die in der Zwischenzeit selig mit einem Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen war. Vorsichtig, ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen, stand sie von der Bettkante auf, legte das Buch auf den Nachttisch, zupfte die Bettdecke noch etwas zurecht und verließ, nicht ohne noch einmal den Blick auf das Kind zu richten, das Zimmer. Sie begab sich ins Wohnzimmer, schnappte ihr Strickzeug und radelte wieder ihre Maschen auf die Nadeln.
Sie war hier in diesem Hause schon fast ein Jahr, als so genannte Leihoma. Die Leute, eine nette junge Familie, hatten selber für die kleine Stephanie keine eigene Oma, da die Großeltern der Kleinen bereits verschieden waren. Und als sich Roswitha anbot, hin und wieder auf die Kleine aufzupassen, damit sich die Eltern mal amüsieren gehen konnten, war ihnen dies mehr als Recht. Nicht, dass sie dies ausnutzten, aber so hin und wieder mal auf den Putz hauen, ohne sich um das eigene Kind kümmern zu müssen, war ihnen schon recht. Sie holten Roswitha nicht nur zum
Aufpassen, wenn sie einmal weg wollten, sondern immer wieder wurde Roswitha eingeladen, mal zu einem Essen oder nur zu einem gemütlichen Abend. Sie hatten sich alle aneinander gewöhnt und genossen das Zusammensein, als seien sie eine zusammen gehörige Familie.
Es war schon spät, als die Eltern der kleinen Stephanie wieder zu Hause ankamen, eine kurze Unterhaltung mit Roswitha, dann machten sie sich alle auf, um Matratzenhorchdienst zu schieben. Wenn es manchmal etwas arg spät geworden war, begab sich Roswitha nicht in ihre eigene Wohnung, die sich in einem Vorort von London befand, sondern schlief in der Wohnung von Stephanies Eltern. Diese Wohnung lag mitten im Zentrum der City und war mehr als geräumig, weshalb ihr schon des Öfteren angeboten wurde, für immer hier in der Wohnung zu leben. Die Eltern der kleinen Stephanie hatten Roswitha in ihr Herz geschlossen, obwohl sie erst seit rund elf Monaten die Kleine versorgte. Doch irgendetwas hatte Roswitha an sich, das allen anderen Menschen ein dermaßen großes Vertrauen einflößte, sie konnten nicht anders, als sie mit offenen Armen aufzunehmen.
Immer wieder fragten sie Roswitha danach, für immer hier zu bleiben, doch Roswitha lehnte stets ab. Nein sie wollte ihre eigene kleine Hütte, in diesem ruhigen Ort beibehalten. Dort fühlte sie sich wohl und zufrieden. Nein eine Veränderung käme ihr in keinster Weise gelegen.
Doch heute Nacht, da ihr der Weg doch zu weit war, nahm sie wieder einmal das Angebot an, in einem geräumigen Zimmer im oberen Stock zu übernachten. Sie legte sich zur Ruhe und schlief wie immer recht schnell ein.
Am nächsten Morgen war sie, wie auch in ihrer eigenen Wohnung früh wach. Ordentlich hinterließ sie das Zimmer, räumte ihre Sachen zusammen, und begab sich in die Küche, um das Frühstück für alle im Haus zu richten. Sie zeigte sich der Familie immer in einwandfreiem Licht.
Es war Wochenende und die Familie hatte einen Ausflug geplant. Roswitha wurde am Frühstückstisch dazu eingeladen, doch sie lehnte dankend ab. Sie wollte dieses Wochenende alleine zu Hause verbringen. Denn sie fühlte sich nicht wohl und das bemerkte die Mutter der kleinen
Stephanie. „Geht es Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch. Nur eine kleine Unpässlichkeit. Das wird bald wieder besser sein.“ Während sie sprach neigte sie den Kopf nach unten, um die tiefen Falten in Ihrem Gesicht zu verstecken. „Haben sie am kommenden Mittwoch Zeit?“ Die Mutter wechselte das Thema, nachdem sie bemerkte, wie Roswitha eindeutig zeigte, sie wolle über das Thema Gesundheit nicht reden.
„Sicher habe ich Zeit, liegt etwas Besonderes an?“ Ihr war natürlich klar, Stephanie würde an diesem Tag zehn Jahre alt werden, und dazu bräuchten sie natürlich Hilfe. Doch sie zeigte nicht, wie sie im Grunde diesem Tage entgegen fieberte.
„Nun ja, Stephanie wird am Mittwoch zehn, und da möchten wir Sie natürlich auf das Herzlichste dazu einladen, diesen Geburtstag mit zu feiern. Oder haben sie doch etwas anderes vor?“ Die Mutter hoffte insgeheim, Roswitha würde an diesem Tage Zeit haben, aber Roswithas Rückfrage machte sie doch etwas stutzig.
„Ach stimmt ja. Das hätte ich beinah vergessen.
Aber sicher komme ich gerne an diesem Tag. Ich werde ihnen auch gerne etwas zur Hand gehen. Es gibt sicher etliches zu tun.“ Roswitha grinste in sich hinein. Endlich war der Tag gekommen, auf den sie schon so lange gewartet hatte. Lange würde sie auch nicht mehr dieses Spiel mitmachen. Ihre Gesundheit litt immer mehr. Doch ab Mittwoch würde sich dies ändern. Dann würde sie wieder die alte sein.
Der Mittwoch kam und Roswitha fand sich pünktlich gegen vierzehn Uhr ein. Heute war nicht nur Stephanies großer Tag, sondern auch ihrer.
Die Feierlichkeiten benötigten nicht viel Vorbereitung. Schließlich hatte die Mutter den ganzen Vormittag Zeit und hatte auch alles geschafft. Nach und nach trudelten die verschiedenen Kinder aus der Nachbarschaft ein, um zusammen mit Stephanie zu feiern.
Stephanie war glücklich neben all ihren Freundinnen. Sie tollten herum, machten viele Spiele, und selbst die Erwachsenen waren ausgelassen. Der Tag endete für alle viel zu schnell. Nur für Roswitha verging er zu langsam. Sie schaute gerade auf die Uhr, als die Mutter
verkündete, man möge nun Schluss machen, da die Zeit schon weit vorangeschritten sei. Roswithas Uhr zeigte einundzwanzig Uhr dreißig. Ja, sie nickte auch zustimmend. Es wurde wirklich langsam Zeit.
Die Nachbarskinder verabschiedeten sich, und Roswitha wurde gefragt, ob sie nicht Stephanie ins Bett bringen wollte. Die Eltern wollten in der Zwischenzeit schon einmal anfangen, etwas Ordnung in den Haushalt zu bringen.
„Gerne bringe ich Stephanie ins Bett", sprach Roswitha, nahm die Hand der Kleinen und führte sie nach oben.
Sie hatte nicht viel zu tun, da Stephanie ein sehr selbständiges Mädchen war. Sie entkleidete sich selbst, zog ihr Nachthemd an, begab sich ins Bad, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen, dann hüpfte sie mit einem Freudenjauchzer ins Bett und ließ sich bereitwillig von Roswitha zudecken.
Eine ganze Weile starrte Roswitha die Kleine an, bis Stephanie fragte: „Liest du mir heute keine
Geschichte vor?“
Jäh wurde Roswitha aus ihren Gedanken gerissen. „Aber natürlich lese ich dir noch eine Geschichte vor.“ Sie nahm das Märchenbuch, schlug eine Seite auf, und begann zu lesen. Doch sie musste nicht lange lesen, denn von den ganzen Strapazen des heutigen Tages, schlief Stephanie schnell und glücklich ein.
Roswitha betrachtete das schlafende Kind, legte das Buch zur Seite, erhob sich und beugte sich mit dem Kopf weit hinunter zu Stephanie. Dann legte sie ihre Hand auf die Stirn des Kindes murmelte ein paar unverständliche Worte, wobei Stephanie wie von Geisterhand ihren Mund öffnete. Ohne langes Zögern presste Roswitha ihren Mund auf den des Kindes und dann hörte man ein leises Zischen, wie von einem Reifen, der auf einem Nagel gefahren war. So verharrte Roswitha etwa drei bis vier Minuten, dann schlug das Mädchen kurz die Augen auf, um sie dann sofort wieder zu schließen und ihren Körper zusammen fallen zu lassen.
Stephanie verlor in diesem Moment ihre Seele und
und ihr Leben.
Im selben Augenblick richtete sich Roswitha auf, und die Haut in ihrem Gesicht fing langsam an sich zu straffen. Die Falten verschwanden zunehmend mehr aus ihrem Gesicht und auch an den anderen Körperpartien. Roswitha starrte auf die Hände und sah dem Straffen der Haut zu. Die Hände wirkten nicht mehr wie die einer älteren Frau, sondern die einer Frau mittleren Alters. Die fuhr mit ihren Händen langsam über das Gesicht und ein breites Grinsen machte sich auf diesem breit. Sie hatte wieder erreicht, wonach sie sich schon eine Zeitlang sehnte. Eiligst begab sie sich ins Bad, um den Erfolg betrachten zu können. Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, strahlte sie, denn sie wusste, noch zweimal müsste sie diese Prozedur durchziehen, dann wäre sie unsterblich und hätte die ewige Jugend.
Langsam ging sie nach unten um beim Aufräumen zu helfen. Ihren letzten Pflichten in diesem Hause wollte sie noch nachkommen. „Schläft Stephanie?“ Die Mutter fragte interessiert nach.
„Ja, sie ist heute besonders schnell
eingeschlafen. Die Aufregung heute war doch sehr groß und das herumtoben mit den anderen war anstrengend.“ Roswitha vermied es, der Mutter ins Gesicht zu schauen. Denn sie könnte die Verwandlung bemerken.
Nach einer Stunde war das größte Chaos in dem Haus beseitigt und Roswitha schickte sich an, sich auf den Nachhauseweg zu machen.
„Wollen sie nicht lieber hier über Nacht bleiben, sie haben doch einen weiten Weg nach Hause und die Zeit ist doch schon weit fortgeschritten?“ Der Vater machte ihr wie immer, wenn es spät geworden war, dieses Angebot.
„Nein, ich muss heute nach Hause, denn ich habe gleich morgen in der Früh einen wichtigen Termin.“ Roswitha ergriff Mantel und Tasche und verabschiedete sich. Sie hatte es eilig, von hier wegzukommen.
Am darauf folgenden Tag kaufte sie die Zeitung, um sich nach einer neuen Stelle als Leihgroßmutter umzusehen. Und wieder suchte sie eine Familie, die jemanden wie sie brauchte, und deren Kind
kurz vor dem zehnten Geburtstag stand. Denn ihr half nur die Seele eines Kindes, welches am zehnten Geburtstag ausgesaugt werden musste.
Und sie hatte wieder Glück. In einem Vorort, suchte eine Familie eine Frau, die ab und zu auf ihre neunjährige Tochter aufpassen würde. Roswitha überlegte nicht lange und rief sofort an. Und sie wurde noch für denselben Nachmittag eingeladen, sich vorzustellen.
Sie warf sich in ihr schönstes Kleid über und begab sich zur angegebenen Adresse. Roswitha legte ihr bestes Lächeln auf, als sie an der Haustür klingelte. Eine gut aussehende Frau, so um die dreißig öffnete ihr. Hinter ihr stand ein Mädchen, dessen Augen weit aufgerissen waren. Die Kleine war neugierig, wie die neue Babysitterin aussehen würde. Die Eltern hatten zuvor mit ihr darüber gesprochen und für die Kleine war dies nichts besonderes, denn es gab in diesem Hause schon viele Babysitter. Meistens waren es Schülerinnen, die nach kürzester Zeit wieder verschwanden. Denn viel war als Babysitter nicht zu verdienen und je nachdem, bei was für einem Kind, konnte dies schon in Stress ausarten.
Vielen Dank für das Lesen dieser Probe, sie sind am Ende der Leseprobe angelangt.
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